Pressemitteilungen

Pressemitteilung 16.10.2020

Internationale Konferenz gegen Menschenhandel in Karlsruhe fordert bessere Integrationsmöglichkeiten für Betroffene  

International tätige Menschenrechts- und Frauenhilfsorganisationen, Wissenschaftler*innen und Selbsthilfegruppen konnten am 13. Oktober bei ihrer Konferenz gegen Menschenhandel 100 Teilnehmer*innen begrüßen. In dem von der EU geförderten Projekt INTAP hatten die beteiligten Organisationen die Integration von Betroffene von Menschenhandel aus Nigeria und China untersucht. In Karlsruhe wurden die Ergebnisse vorgestellt und in einem von SOLWODI-Mitarbeiterin Anja Wells moderierten Panel Forderungen an die Politik diskutiert.

Die Berichte der Organisationen und die Vorträge in Karlsruhe zeigten, dass der Mechanismus hinter dem Menschenhandel immer nach dem gleichen Muster abläuft: Frauen aus armen sozialen Verhältnissen werden gezielt im Heimatland angeworben oder sie fliehen nach Europa, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In Italien, Österreich oder Deutschland werden sie im günstigsten Fall in einem Nagelstudio ausgebeutet, in den meisten Fällen jedoch in der Prostitution. Dort müssen sie Schulden abbezahlen für Visa, Reise und werden psychisch von Menschenhändler*innen oder Madams unter Druck gesetzt: Mit einem Voodoo-Schwur etwa oder durch die Androhung, dass ihrer Familie etwas zustößt, sollten sie sich der Ausbeutung widersetzen.

Nach der Datenerhebung über Menschenhandel in der EU (Europäische Kommission 2018) stellten nigerianische Betroffene von Menschenhandel die größte Gruppe von Drittstaatsangehörigen dar. Chinesische Frauen und Mädchen bildeten zwischen 2010 und 2016 bereits die drittgrößte Gruppe. Bisher gab es nur sehr wenige Untersuchungen über chinesische Opfer des Menschenhandels in Europa. Im INTAP-Projekt hat Herzwerk Wien diese Gruppe untersucht und kam zum Ergebnis, dass Chinesinnen zunächst oft über ein Touristen-oder Studentenvisa legal einreisen. Für Beratungsstellen sei es schwierig, mit den chinesischen Frauen und Mädchen Kontakt aufzunehmen. Die Betroffenen befürchten Repressalien, weil sie in der chinesischen Community Ausspäher*innen vermuten.

Kritisiert wurden auf der Konferenz - auf Deutschland bezogen - u.a. die fast aussichtslosen juristischen Kämpfe für ein Bleiberecht der Menschenhandelsopfer, chronisch unterfinanzierte Beratungsstellen, nicht ausreichende Hilfsangebote für Betroffene und stark zurückgegangene Menschenhandelsprozesse.

In Karlsruhe haben die teilnehmenden Organisationen ein Projekthandbuch für Deutschland zur INTAP-Studie vorgestellt, das auf den Ergebnissen aus dem vorangegangenen Forschungsbericht "Intersektioneller Ansatz zum Integrationsprozess in Europa für Überlebende von Menschenhandel aus Nigeria: Chancen stärken und Hindernisse überwinden" basiert. Das Projekthandbuch richtet sich an Praktiker*innen, die mit Opfern von Menschenhandel arbeiten und gibt Handlungsempfehlungen für individuell zugeschnittene Integrationsprogramme.

Lösungsansätze sind bspw.: Trauma-Schulungen für medizinisches Personal, interkulturelle Elternarbeit, Mutter-Kind-Sprachkurse, Lockerungen im Ausländerrecht, verbesserte staatliche Finanzierung. Das Handbuch geht auch auf spezifische Fähigkeiten ein, die für Praktiker*innen als Vertrauenspersonen unerlässlich sind: interkulturelle, interreligiöse, soziale und emotionale Kompetenzen. Zusammen mit den Maßnahmenvorschlägen bieten sie Ansätze, bestehende Programme zu optimieren und Betroffene in die Lage zu versetzen, sich in europäischen Mitgliedstaaten zu integrieren.

Das Handbuch ist nicht nur eine Orientierungshilfe für die Integration nigerianischer Menschenhandelsopfer, sondern auch eine Chance, Projektergebnisse auf die Integrationsarbeit mit Betroffenen aus anderen Ländern oder auf Migrantinnen anderer geschlechtsspezifischer Gewaltformen (z.B. Zwangsheirat) zu übertragen.

Beteiligt an dem Projekt INTAP und an der Konferenz waren SOLWODI Deutschland e.V., Gemeinsam gegen Menschenhandel e.V. (Deutschland), The Justice Project e.V. (Deutschland), Herzwerk Wien (Österreich), Associazione Comunità Papa Giovanni XXIII (APG23) (Italien) und der Wissenschaftler Simon Kolbe von der Universität Eichstätt-Ingolstadt.

Das Projekthandbuch und die Forschungsberichte können hier herunterladen werden.

Pressemitteilung 20.02.2019

Menschenhandel bekämpfen: Experte der KU an EU-Projekt beteiligt

Wie kann man Opfern von Menschenhandel helfen? Simon Kolbe, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsverbund Inklusion der KU, befasst sich mit dieser Frage im Rahmen eines EU-Projekts, das die Integration nigerianischer und chinesischer Betroffener des Menschenhandels verbessern will. Der Sozialpädagoge ist Teil eines transnationalen, fünfköpfigen Teams von Forschern. Am Montag und Dienstag fiel im Bundestag der Startschuss für das mit 415.000 Euro dotierte Projekt.

Simon Kolbe (links im Bild) beim Auftakttreffen der Partner des Projektes „Intersektioneller Ansatz zum Integrationsprozess in Europa für Betroffene des Menschenhandels“ in Berlin. (Foto: Kolbe/upd)

Koordiniert wird das Projekt „Intersektioneller Ansatz zum Integrationsprozess in Europa für Betroffene des Menschenhandels“, kurz INTAP, vom Bündnis „Gemeinsam gegen Menschenhandel“. An Planung und Durchführung sind zudem deutsche, österreichische und italienische Nichtregierungsorganisationen mit langjähriger Erfahrung im Bereich Integration beteiligt: „Solwodi Deutschland“, „The Justice Project“, „Herzwerk Wien“ und „Associazione Comunità Papa Giovanni XXIII“. Als Schirmherr fungiert der Bundestagsabgeordnete Frank Heinrich (CDU), auf dessen Einladung Simon Kolbe das Projekt als Experte unterstützt. Kolbe befasst sich als Mitarbeiter im Verbundprojekt Inklusion wissenschaftlich sowie als Flüchtlings- und Integrationsberater der Caritas Eichstätt praktisch unter anderem mit der Frage, wie von Zwangsprostitution betroffenen Frauen geholfen werden kann und welche Rolle Religion und Spiritualität dabei spielen. „Neben psychischer und physischer Gewalt nutzen Menschenhändler häufig Voodoo-Flüche, um nigerianische Frauen zu kontrollieren“, erklärt Kolbe. „Unser Ziel ist es, das System dahinter zu verstehen, und zu erarbeiten, wie wir die Frauen abholen und ihnen Hilfe bieten können.“ In der Asylberatung hat Kolbe immer wieder mit sexuell ausgebeuteten Frauen aus Nigeria zu tun: „Was diese Frauen erleben, bis sie überhaupt in Deutschland ankommen, ist unvorstellbar. Dennoch können sie nicht sicher sein, hier Asyl gewährt zu bekommen.“ Ihre Geschichten werden nicht zuletzt angezweifelt, da die große Relevanz des spirituellen Druckmittels Voodoo für die Behörden schwer nachvollziehbar sei. „Durch unsere Forschung können wir versuchen, Verständnis zu schaffen, und so die Glaubwürdigkeit der Frauen stärken“, hofft Kolbe. Dies sei auch ein erster wichtiger Schritt, um die betroffenen Frauen langfristig zu integrieren und ihnen echte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Beruflich sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis verwurzelt, ist es Kolbe wichtig, im Projekt „INTAP“ beide Aspekte zu verbinden: „Mein Ziel ist es, zu forschen, um Erkenntnisse nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Anwender zu erhalten.“ Um optimal helfen zu können, bräuchten Berater wissenschaftlich fundierte Daten und Erkenntnisse über die Funktionsweise des Systems Menschenhandel und die Bedürfnisse der Betroffenen. Soziale Arbeit und Sozialpädagogik sieht Kolbe dabei in einer Schlüsselrolle: „Sie bilden die Schnittstelle zwischen Praxis und Forschung.“ Im Rahmen des INTAP-Projekts will Kolbe diesen Anspruch durch qualitative Interviews mit Opfern von Menschenhandel erfüllen. Eine besondere Schwierigkeit stellt dabei der Zugang zu den verängstigten und massiv unter Druck stehenden Frauen dar. Durch seine Arbeit als Asylberater und ein Kooperationsprojekt zur Traumaforschung mit dem Lehrstuhl für Klinische Psychologie der KU konnte Kolbe jedoch bereits einige Frauen akquirieren. Insgesamt plant das Forschungsteam 40 Betroffene sowie 20 Experten zu befragen. Beim Auftakttreffen in dieser Woche wurde bereits an den Leitfäden gearbeitet, ab April sollen die ersten Einzelinterviews stattfinden. Geplant sind in den kommenden zwei Jahren zudem weitere Meetings, Publikationen und Konferenzen, um die Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Pressemitteilung 05.11.2020

Spiritualität als Hindernis und Chance: Soziale Arbeit mit Zwangsprostituierten aus Nigeria

Menschenhandel wirkt wie ein Phänomen, das aus der Zeit gefallen scheint. Doch das Schicksal tausender Frauen aus Nigeria, die in Ländern der EU zur Prostitution gezwungen werden, führt modernen Sklavenhandel als Thema der Gegenwart vor Augen. Eine besondere Herausforderung für den Umgang mit nigerianischen Betroffenen stellt eine kulturell-spirituelle Tradition ihres Herkunftslandes dar, welche sie im wörtlichen Sinn im Bann hält. Geeignete Maßnahmen der Sozialarbeit für diese Frauen haben im Zentrum eines internationalen Projektes gestanden, an dem Simon Kolbe als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls für Sozialpädagogik der KU mitgewirkt hat. Gefördert von der Europäischen Union haben die Beteiligten des Projektes „Intersektioneller Ansatz zum Integrationsprozess in Europa für Betroffene des Menschenhandels“ (INTAP) nun ein Handbuch herausgegeben, das Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für ihre alltägliche Arbeit sensibilisieren und unterstützen soll.

Zwischen 2015 und 2016 wurden in der EU allein aus Nigeria über 2000 Opfer von Menschenhandel registriert, die Dunkelziffer ist deutlich höher. Die meisten von ihnen sind Frauen, die vor allem in Italien zu Prostitution gezwungen werden. Angetrieben von einem Wunsch nach einem besseren Leben haben sie zuvor in ihrer Heimat einen „Auswanderungspakt“ geschlossen. Mit diesem verpflichten sie sich dazu, eine Gebühr für die Überführung in die EU zurückzuzahlen. Die anfänglichen Kosten werden oft drastisch erhöht und belaufen sich auf einen Preis zwischen 40.000 Euro und 100.000 Euro. Diese Praxis stellt die Opfer in eine Art Schuldknechtschaft. Doch damit nicht genug: Ein spezielles Element des nigerianischen Sexhandels ist die Verwendung von sogenannten Juju-Ritualen als Teil traditioneller afrikanischer Religion. Sie werden als Mittel zur psychischen Versklavung genutzt. „Diese Form der Kontrolle ist für sowohl Strafverfolgungsbehörden als auch die Soziale Arbeit besonders schwierig zu handhaben, da dieser psychische Druck auf ungewohnten Überzeugungen und Praktiken beruht“, erklärt Simon Kolbe.

Das Konzept des Juju-Schwurs innerhalb des Menschenhandels, der besonders in der nigerianischen Region Edo praktiziert werde, existiere als Teil eines einheimischen Justizsystems. Dieses System beruhe auf dem Glauben, dass bestimmte Gottheiten die Macht hätten, zwischen zwei Parteien gerichtlich zu entscheiden. Dieses Justizsystem wird parallel zum offiziellen Justizsystem für Straf- und Zivilsachen genutzt. „Opfer, die sich aus der ausbeuterischen Situation der Zwangsprostitution befreit haben, brechen folglich den Schwur, weil sie ihre Schulden nicht vollständig zurückgezahlt und vielleicht sogar mit Sozialarbeiterinnen und der Polizei über die Vereinbarung gesprochen haben. Als Folge des Schwurbruchs haben viele Betroffene mit ständiger Angst zu kämpfen: vor Verfolgung durch Geister oder Menschenhändler, vor Verfluchung und dem Verrücktwerden. Dabei machen sie sich nicht nur Sorgen um sich selbst, sondern auch um ihre Kinder und ihre Familie in ihrem Heimatland, die gleichermaßen gefährdet sind“, so Kolbe.

Für die Sozialarbeit stelle diese religiös-kulturelle Hintergrund eine große Herausforderung dar. Denn wenn man ihn nicht ernst nehme, komme erst gar kein Vertrauensverhältnis zustande. Die Arbeit mit den Betroffenen gestaltet sich als ein langwieriger, oft mehrjähriger Prozess, in dem so genannte Vertrauenspersonen eine zentrale Rolle spielen. Dabei handelt es sich sowohl um Sozialarbeiterinnen und -arbeiter als auch Ehrenamtliche. Für die Projektbeteiligten war es sehr aufwändig, überhaupt Frauen dafür zu gewinnen, über ihre Lebenswege in wissenschaftlichen Interviews zu berichten. Gerade tiefsitzende Angst und Misstrauen vor Menschen führe bei diesen Klientinnen häufig dazu, dass sie Hilfe zunächst ablehnten und sich aus Beziehungen zurückzögen. „In unserer Arbeit müssen wir Zugänge schaffen. Wir können die Frauen, die mündig sind, nicht dazu zwingen, ihre Kultur abzulegen. Soziale Arbeit braucht den Auftrag der Klientinnen, ihnen zu helfen. Erst dann können wir mit ihnen zusammen einen Ausweg entwickeln – entsprechend ihrer individuellen Bedürfnisse“, betont Kolbe, der selbst langjährige Erfahrung aus der Asylberatung für die Caritas hat.

In den Gesprächen der Projektgruppe mit den Frauen aus Nigeria hat sich gezeigt, dass diese häufig parallel zu ihrer Prägung durch traditionelle afrikanische Religion auch christlichen Kirchen angehören. Eine solche quasi duale Form der Spiritualität biete häufig einen Ansatzpunkt, um den Frauen Auswege aufzuzeigen. Dabei dürfe Sozialarbeit jedoch nicht mit Seelsorge gleichgesetzt werden, sondern müsse bei Bedarf entsprechend weiterzuvermitteln: „Wenn wir in der sozialen Arbeit eine Gruppe haben, die religiöse Bedürfnisse hat oder religiöse Strategien für die Bewältigung ihres Lebens benötigt, dann sind wir dazu verpflichtet, uns dem zu widmen und diese Perspektive ernst zu nehmen. Auch dies gehört zu professioneller Sozialarbeit.“ Gerade Einrichtungen mit säkularem Hintergrund müssten solche Bedürfnisse zumindest identifizieren und einordnen können, um die Klientinnen dann an geeignete Institutionen weiterverweisen zu können. Eine Unterstützung dafür liefert das kostenlos und online verfügbare Handbuch, das aus dem INTAP-Projekt hervorgegangen und nun veröffentlicht wurde. Der Lehrstuhl für Sozialpädagogik der KU (Prof. Dr. Dr. Janusz Surzykiewicz) hat hier als wissenschaftlicher Partner besondere Expertise unter anderem im Hinblick auf spirituelle Ressourcen sowie Coaching und Spiritualität eingebracht. Aus Sicht von Simon Kolbe haben „Flucht und Migration wieder Fragen von Religiosität und Spiritualität stärker ins Bewusstsein von Sozialer Arbeit gerückt. Die Bedürfnislage in der gesamten Gruppe von Geflüchteten ist einfach höher“. Die Projektgruppe plädiert deshalb auch dafür, dass mehr Integrationsprogramme geschaffen werden müssen, die solche spezifischen Bedürfnisse berücksichtigen, anstatt verschiedene Gruppen zusammenzufassen und davon auszugehen, dass sie auf dem Weg der Genesung die gleichen Angebote benötigten.

Weitere Informationen zum Projekt sowie die Handbücher für Praktikerinnen und Praktiker in deutscher und englischer Sprache finden sich unter www.intap-europe.eu.

 

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