DAS FORSCHUNGSPROJEKT...
...zielt darauf ab, die Integration von nigerianischen und chinesischen Überlebenden des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung zu verbessern und die derzeitigen Integrationssysteme effektiver zu gestalten. Langfristig wird das Projekt die Betroffenen befähigen, Hindernisse für ihre Integration zu überwinden.
Durch die Einbeziehung eines kulturell sensiblen, opferzentrierten, intersektionellen Ansatzes zielt das Projekt darauf ab, dauerhafte Lösungen für die Integration von nigerianischen und chinesischen Drittstaatsangehörigen zu finden.
INTAP zielt nicht auf die Schaffung eines neuen Integrationsprogramms ab, sondern darauf, es staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen zu ermöglichen, bestehende anzupassen oder neue, effektivere psychosoziale Integrationsprogramme zu konzipieren.
Projekttitel: Intersectional approach to the process of integration in Europe for survivors of human trafficking (INTAP) / Intersektionale Ansätze im Integrationsprozess für Überlebende von Menschenhandel (zum Zweck der sexuellen Ausbeutung) aus Nigeria und China, insbesondere Frauen und Mütter
Projektziel: verbesserte Integrationsmöglichkeiten
Projekt-Zielgruppe: weibliche Betroffene von Menschenhandel aus Nigeria und China
Finanzierung: EU-Programm AMIF, 821412 —INTAP —AMIF-2017-AG-INTE
2 Teilprojekte; Laufzeit: 01.01.2019 - 31.12.2020
Bericht: Internationale Konferenz gegen Menschenhandel in Karlsruhe stellte Ergebnisse des EU-Projektes INTAP vor
Karlsruhe. Die im EU-Projekt INTAP beteiligten, international tätigen Menschenrechts- und Frauenhilfsorganisationen, Wissenschaftler*innen sowie Selbsthilfegruppen konnten am 13. Oktober 2020 bei ihrer Konferenz gegen Menschenhandel 100 Teilnehmer*innen in der Festhalle in Karlsruhe-Durlach begrüßen. Die Organisationen hatten zuvor die Integration von Betroffene von Menschenhandel aus Nigeria und China im Projekt untersucht, in Karlsruhe wurden die Ergebnisse vorgestellt.
Andreas Eisinger von Baden TV übernahm die Tagesmoderation der Veranstaltung. Meri Uhlig, Integrationsbeauftragte der Stadt Karlsruhe, betonte in ihrem Grußwort die Wichtigkeit, das Schicksal von Menschenhandelsopfern politisch stärker in den Fokus zu rücken: Die betroffenen Frauen seien heimatlos, sprachlos, entmenschlichst und für viele von ihnen sei es auch aufgrund der Erlebnisse wesentlich schwieriger als für andere Gruppen soziale Netzwerke in Deutschland zu knüpfen.
Die Projektpräsentation von Luisa Eyselein (The Justice Project e.V., Deutschland), Anja Wells (SOLWODI Deutschland e.V.), Caroline Sander (Herzwerk-diakonische Initiative, Österreich) und Irene Ciambezi (Comunitá Papa Giovanni XXIII, Italien) machten deutlich, dass der Mechanismus hinter dem Menschenhandel immer nach dem gleichen Muster abläuft: Frauen aus armen sozialen Verhältnissen werden gezielt im Heimatland angeworben oder sie fliehen nach Europa, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In Italien, Österreich oder Deutschland werden sie im günstigsten Fall in einem Nagelstudio ausgebeutet, in den meisten Fällen jedoch in der Prostitution. Dort müssen sie Schulden abbezahlen für Visa, Reise und werden psychisch von Menschenhändler*innen oder Madams unter Druck gesetzt: Mit einem Voodoo-Schwur etwa oder durch die Androhung, dass ihrer Familie etwas zustößt, sollten sie sich der Ausbeutung widersetzen.
Nach der Datenerhebung über Menschenhandel in der EU stellten nigerianische Betroffene von Menschenhandel 2018 die größte Gruppe von Drittstaatsangehörigen dar. Chinesische Frauen und Mädchen bildeten zwischen 2010 und 2016 bereits die drittgrößte Gruppe (Europäische Kommission, 2018). Da es bisher nur sehr wenige Untersuchungen über chinesische Opfer des Menschenhandels in Europa gab, untersuchte Herzwerk aus Wien im INTAP-Projekt diese Gruppe. Herzwerk-Mitarbeiterin Caroline Sander, die coronabedingt live nach Karlsruhe zugeschaltet wurde, berichtete, dass Chinesinnen zunächst oft über ein Touristen- oder Studentenvisa legal nach Europa einreisen. Für österreichische Beratungsstellen sei es schwierig, mit den chinesischen Frauen und Mädchen Kontakt aufzunehmen. Die Betroffenen, die oft kein oder nur sehr wenig Deutsch sprechen, befürchten Repressalien, weil sie in der chinesischen Community Ausspäher*innen vermuten.
Luisa Eyselein berichtete, dass es auch für sie zunächst schwierig gewesen sei, mit Klientinnen ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Die Frauen seien oftmals durch Traumata und Schlaflosigkeit geschwächt, die Kontinuität, mit der ihnen Begleitungs- und Beratungsangebote angeboten werden, habe aber letztlich dazu geführt, dass sie in den Berater*innen Vertrauenspersonen sahen, die sie zuverlässig zu Arzt-, Behörden-, Rechtsanwalts-und Asylanhörungsterminen begleiten.
Irene Ciambezi berichtete von Frauen, die Opfer von Menschenhandel wurden, und in Italien ein Baby zur Welt brachten. Die Kinder selbst seien, soweit sie in Aufnahmeeinrichtungen aufwachsen, als „Ankerbabys“ stigmatisiert. Die Mütter litten oftmals unter postnatalen Depressionen, auch sei durch das Kind ihr Zugang zum Arbeitsmarkt wesentlich erschwert. In der Mutterschaft sehen manche Frauen aber auch positive Aspekte: Manche von ihnen blicken positiver in die Zukunft, weil sie erkennen, dass sie für ihre Kinder stark sein müssen. Auch fiele ihnen der Zugang zu anderen Müttern über die Kinder leichter.
Simona Povigna, die in Italien für PIAM Onlus (Progetto Integrazione Accoglienza Migranti) als Sprachlehrerin im Einsatz ist, schilderte ihre Schwierigkeiten mit afrikanischen Schülerinnen: Viele seien schulisch schlecht ausgebildet oder gar nicht alphabetisiert. Aufgrund mangelndem Abstrahierungsvermögen sei es für diese Frauen sehr schwierig, überhaupt Zukunftsperspektiven zu entwickeln. PIAM Onlus-Direktor Alberto Mossino stellte Initiativen vor, mit denen diese Frauen bei ihnen ausgebildet werden, etwa im Bereich Kochen/Catering. Alberto Mossino mahnte an, dass in Afrika verstärkt Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden müsse, um junge Frauen umfassend über das System Menschenhandel und Prostitution aufzuklären. Viele afrikanische Mädchen würden in ihren Dörfern den Reichtum zurückgekehrter Menschenhändler*innen sehen, die ihnen gut bezahlte Jobs in Europa versprechen. In Italien würden die Frauen manchmal von Menschenhändler*innen aus den Asylunterkunften herausgeholt und, z.B. nach Deutschland, in die Prostitution geschickt. Wenn diese Frauen nach dem Dublin-Verfahren zurück nach Italien kämen, seien sie dort nicht mehr sicher.
Evon Benson-Idahosa, Gründerin und Direktorin der Pathfinders Justice Initiative in Nigeria, berät nationale und internationale Politiker*innen. Sie beschrieb in einem Videointerview ein nigerianisches Programm, das Politiker*innen, Vertreter*innen aus der Zivilbevölkerung, Betroffene und Menschenhändler*innen an einen Tisch bringt. Ziel sei dabei, die unsichere Migration in die EU zu unterbinden. Stattdessen setzt Evon Benson-Idahosa auf Ausbildungsangebote vor Ort oder beispielsweise Start-up-Kapitals. Sie kritisierte, das die nationale Agentur gegen Menschenhandel in Nigeria finanziell schlecht ausgestattet sei, auch sei die Verfahrensdauer der einzelnen Prozesse sehr lang und Opfer würden in dieser Zeit auch nicht unterstützt. Auch käme hinzu, dass sich viele Opfer als Zeuginnen nicht zur Verfügung stellen, entweder, weil sie sich schämen, in der Prostitution gewesen zu sein oder denken, sie trügen Schuld daran, dort hingerutscht zu sein.
In der von Anja Wells am Nachmittag moderierten Podiumsdiskussion wies SOLWODI-Sozialarbeiterin Renate Hofmann darauf hin, dass auch in Deutschland Menschenhandelsprozesse stark zurückgegangenen seien. Früher hätten SOLWODI-Klientinnen, die als Opferzeuginnen vor Gericht gebraucht wurden, problemlos einen Aufenthaltstitel erhalten. Renate Hofmann kritisierte zudem die rigorose bayerische Abschiebepraxis, nach der lediglich noch in Einzelfällen alleinerziehende Mütter erfolgreich Abschiebehindernisse geltend machen können.
Rex Osa vom Netzwerk Refugees for Refugees betreut verzweifelte Nigerianerinnen, die zurück in ihr Heimatland müssen. Unter diesen Frauen seien viele mit Depressionen und Selbstmordgedanken, die nicht wüssten, wie sie ihre Geschichte von Menschenhandel und Prostitution zuhause den Angehörigen erklären sollen.
Kriminaloberkommissar Oliver Linke gab bei den zurückgegangenen Menschenhandelsprozessen als Gründe zu bedenken, dass manche Opfer mit ihrer Geschichte für sich selbst innerlich abschließen wollen oder sie von Dritten massiv eingeschüchtert werden. Auch befürchten die Frauen, wenn sie aussagen, dennoch kein Bleiberecht zu erhalten und nach Rückkehr ins Heimatland bedroht zu werden, wo die deutsche Polizei sie nicht beschützen könne. Internationale Ermittlerteams zur Verfolgung des Menschenhandels sind nach Oliver Linkes Einschätzung schwer einzurichten. Eine Verlagerung der Täterstrukturen von den Madams hin zu nigerianischen Bruderschaften wie in Italien und Spanien, sieht Linke in Deutschland noch nicht, dort gebe es bisher lediglich einzelne Verbindungen.
Traute Ehlerding, Rechtsanwältin für Asylrecht, beklagte die nahezu aussichtslosen juristischen Kämpfe für ein Bleiberecht für Menschenhandelsopfer in Deutschland. Richter*innen würden oft die Aussagen der Frauen, mittels eines Voodoo-Schwurs eingeschüchtert worden zu sein, anzweifeln. Stattdessen verweise die Justiz bei negativen Gerichtsentscheiden über einen Aufenthaltstitel immer öfter auf innerstaatliche Fluchtalternativen im Heimatland.
Simon Kolbe von der katholischen Universität Ingolstadt-Eichstädt skizzierte die deutsche Forschungslandschaft, in der das Thema Menschenhandel unter-repräsentiert sei. Für Forschungsprojekte zum Thema Menschenhandel sei es zudem schwierig, in Deutschland Forschungsmittel zu erhalten. Simon Kolbe führte das geringe Interesse der Politik an entsprechenden Forschungen darauf zurück, dass das Thema gesellschaftlich keine exponierte Rolle spiele. Weitere Themen im Podium waren die chronisch unterfinanzierten Fachberatungsstellen und nicht ausreichende Hilfsangebote für Betroffene. So sei es z.B. auch in einer größeren Stadt wie Ingolstadt für Betroffene schwierig, eine(n) Fachanwalt*in für Asylfragen ohne Mandant*innenaufnahmestopp zu finden.
In den Pausen sowie vor Beginn der Veranstaltung nutzen die Projektpartner*innen das große Interesse der Besucher*innen, um im Foyer des Veranstaltungsortes ihre Organisationen und Hilfsangebote vorzustellen. Dabei konnten für alle Akteur*innen wertvolle Netzwerke für die Zukunft geknüpft werden.
IM ÜBERBLICK:
Projektergebnisse – Nigerianischer und chinesischer Teil
Ziel der beiden Forschungsberichte: Chancen & Hindernisse in der Integration von SoT (Survivors of Trafficking)
Methode: Interviews mit SoT, Expert*inneninterviews, qualitative Inhaltsanalyse, Feldexpertise
Die qualitative Studie zu Nigeria wurde mit 35 Betroffenen, 18 Expert*innen und zwei Fokusgruppen durchgeführt. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Studie sind die Rolle einer Vertrauensperson als größte Chance und die Rolle der Angst als größtes Hindernis für die Integration der SoT. Weitere Implikationen sind der Bedarf zusätzlicher staatlicher Finanzierung für geschlechtsspezifische und mutter- und kinderfreundliche, sichere Unterkünfte sowie auf Betroffene spezialisierte Sozialarbeiter*innen und NGOs. Die Asylpolitik müsse angepasst werden, um von der Abschiebung von SoT abzusehen. Parallel dazu sollten die EU-Mitgliedstaaten zusätzliche Mittel für Antirassismus- und andere sozialpolitische Projekte freigeben, um Ausländerfeindlichkeit in der Gesellschaft entgegenzuwirken.
Der Forschungsbericht zu China zielt darauf ab, mehr Informationen darüber zu liefern, wie der Menschenhandel mit chinesischen Frauen nach Europa tatsächlich funktioniert und was die besonderen Herausforderungen für die Betroffenen sind. Ausgehend von einer umfangreichen Literaturrecherche konzentriert sich die Forschung einerseits auf qualitative Interviews mit Betroffenen und andererseits auf Expert*inneninterviews mit relevanten Behörden, spezialisierten NGOs und chinesischen Kultur- und Sprachexpert*innen. Abgesehen von Aspekten wie Sprache, Zugang zum Arbeitsmarkt, Aufenthaltsfragen oder der chinesischen Gemeinschaft erwiesen sich zwei Elemente dieser Forschung als herausragend: Der positive Einfluss einer so genannten Vertrauensperson und der negative Einfluss von Angst und Scham - letzteres als intrinsisches Element der chinesischen Kultur.
Ziele der beiden Projekthandbücher: Darstellung der best practices und Lösungsansätze aus den Forschungsberichten
In Karlsruhe wurde zudem ein Projekthandbuch für Deutschland zur INTAP-Studie vorgestellt, das auf den Ergebnissen aus dem vorangegangenen Forschungsbericht basiert. Das Projekthandbuch richtet sich an Praktiker*innen, die mit Betroffenen von Menschenhandel arbeiten und gibt Handlungsempfehlungen für individuell zugeschnittene Integrationsprogramme.
Lösungsansätze sind bspw.: Trauma-Schulungen für medizinisches Personal, interkulturelle Elternarbeit, Mutter-Kind-Sprachkurse, Lockerungen im Ausländerrecht, verbesserte staatliche Finanzierung. Das Handbuch geht auch auf spezifische Fähigkeiten ein, die für Praktiker*innen als Vertrauenspersonen unerlässlich sind: interkulturelle, interreligiöse, soziale und emotionale Kompetenzen. Zusammen mit den Maßnahmenvorschlägen bieten sie Ansätze, bestehende Programme zu optimieren und Betroffene in die Lage zu versetzen, sich in europäischen Mitgliedstaaten zu integrieren.
Das Handbuch ist nicht nur eine Orientierungshilfe für die Integration nigerianischer Menschenhandelsopfer, sondern auch eine Chance, Projektergebnisse auf die Integrationsarbeit mit Betroffenen aus anderen Ländern oder auf Migrantinnen anderer geschlechtsspezifischer Gewaltformen (z.B. Zwangsheirat) zu übertragen.
Forschungsberichte und Projekthandbücher können hier heruntergeladen werden.